Saturday, September 29. 2018
Der beste Ort
Unorthodoxe Worte über Marion Brasch und "Ab jetzt ist Ruhe"
Ich habe mich erkältet, was furchtbar ungünstig ist. Nicht nur, weil Erkältungen ganz allgemein niemand braucht. Diesmal ist es besonders dumm, dass der Husten, egal was man tut, eine ganze Woche braucht. Ich weiß nämlich nicht mehr, was ich tun soll.
Mein Heilungsprozess hatte gerade begonnen, weil ich still und vergnügt inhalierte oder ein Spiel spielte oder zeichnete und rechtzeitig aß und Hustentropfen nahm. Das alles tat ich ohne zu murren, weil ich nicht allein war, obwohl sogar meine eigene Mutter mich unter Quarantäne gestellt hatte. Ich war denoch nicht allein, ich hörte nämlich mit großem Genuss ein wunderbares Hörbuch. Doch mit Genuss und Wunder war plötzlich Schluss, denn mein Hörbuch ist soeben zu Ende gegangen. Und was nun?
Ich hörte ein Buch, das mich in eine andere Zeit, ja, in eine ganz und gar andere Welt versetzte, so sehr, dass ich soeben, als das letzte Wort, gelesen von der Autorin, verklang, feststellte, dass ich mich in meinem Bett in meiner Wohnung befand, offenbar mit ziemlicher Erkältung.
Das Buch ist der Bericht einer Frau meines Jahrgangs, dem Jahr des Mauerbaus, die als letzte ihrer Familie die Erinnerung an Vater und Mutter und ihre drei älteren Brüder festhält, indem sie sie niederschrieb. Sie ist nicht wirklich die letzte, denn sie hat eine Tochter, aber hier geht es um die Familie, in der sie als jüngstes Mitglied aufwuchs. Eine Familie, von der sich nun alle einen Namen gemacht haben, nicht zuletzt als Heldinnen und Helden dieses Romans. Es geht um die Familie Brasch.
Dies ist auch der Titel eines im Kino gezeigten Dokumentarfilms, eines buchstäblichen Familienporträts, der nicht Werbung für das Buch macht, denn das zu behaupten, würde dem Film nicht im Mindesten gerecht. Der Film ist viel mehr eine ergänzende Aussensicht zur Innensicht des Buches, welche die Autorin, die nicht weniger dicht am Thema sein könnte als sie es war, naturgemäß einnehmen musste. Im Film kommen mehrere Menschen zu Wort, hier darf das jüngste Kind, diese letzte Überlebende, das letzte Wort haben, und das ist gut so.
Ihre warme, nach wenigen Sätzen bereits vertraute Stimme begleitete mich durch das andere Deutschland bis zu dessen Niedergang und dem Zerbrechen aller Hoffnungen, die noch gehofft wurden, nicht nur weil diese bekanntlich als letzte geht, auch weil, wie die Autorin es sagt, man doch wohl etwas anderes hätte versuchen können mit diesem zweiten Land.
Ich bediene mich ihrer Sprache, lehne mich daran an, weil ich noch nicht loslassen kann, dazu fehlt mir die Kraft, bin ich noch, wir wissen das, zu sehr erkältet.
Darum ziehe ich den Hut vor dieser Frau, die so mutig einen Roman schrieb, der alles zur Sprache brachte, auch das, das bereits Geschichte oder eben sogar schon eine Geschichte ist. Mehr denn je habe ich das Gefühl sie zu kennen und dabei gewesen zu sein. Genau darum geht es doch wohl, dass wir Menschen anhand ihrer Schicksale in die Erinnerung schreiben.
Ich habe die Lösung, ich werde das Buch jetzt einfach noch einmal hören, damit ich mich später besser daran erinnern kann an die Orte, die Menschen, das Land. Ja, ich höre es noch einmal, schließlich will ich endlich gesund werden. Und der Autorin möchte ich am liebsten sagen: Was verloren scheint, muss gar nicht so verloren sein. Denn wenn uns geboten ist zu gehen, ist die Erinnerung der beste Ort zu bleiben.
© 2018
Ich habe mich erkältet, was furchtbar ungünstig ist. Nicht nur, weil Erkältungen ganz allgemein niemand braucht. Diesmal ist es besonders dumm, dass der Husten, egal was man tut, eine ganze Woche braucht. Ich weiß nämlich nicht mehr, was ich tun soll.
Mein Heilungsprozess hatte gerade begonnen, weil ich still und vergnügt inhalierte oder ein Spiel spielte oder zeichnete und rechtzeitig aß und Hustentropfen nahm. Das alles tat ich ohne zu murren, weil ich nicht allein war, obwohl sogar meine eigene Mutter mich unter Quarantäne gestellt hatte. Ich war denoch nicht allein, ich hörte nämlich mit großem Genuss ein wunderbares Hörbuch. Doch mit Genuss und Wunder war plötzlich Schluss, denn mein Hörbuch ist soeben zu Ende gegangen. Und was nun?
Ich hörte ein Buch, das mich in eine andere Zeit, ja, in eine ganz und gar andere Welt versetzte, so sehr, dass ich soeben, als das letzte Wort, gelesen von der Autorin, verklang, feststellte, dass ich mich in meinem Bett in meiner Wohnung befand, offenbar mit ziemlicher Erkältung.
Das Buch ist der Bericht einer Frau meines Jahrgangs, dem Jahr des Mauerbaus, die als letzte ihrer Familie die Erinnerung an Vater und Mutter und ihre drei älteren Brüder festhält, indem sie sie niederschrieb. Sie ist nicht wirklich die letzte, denn sie hat eine Tochter, aber hier geht es um die Familie, in der sie als jüngstes Mitglied aufwuchs. Eine Familie, von der sich nun alle einen Namen gemacht haben, nicht zuletzt als Heldinnen und Helden dieses Romans. Es geht um die Familie Brasch.
Dies ist auch der Titel eines im Kino gezeigten Dokumentarfilms, eines buchstäblichen Familienporträts, der nicht Werbung für das Buch macht, denn das zu behaupten, würde dem Film nicht im Mindesten gerecht. Der Film ist viel mehr eine ergänzende Aussensicht zur Innensicht des Buches, welche die Autorin, die nicht weniger dicht am Thema sein könnte als sie es war, naturgemäß einnehmen musste. Im Film kommen mehrere Menschen zu Wort, hier darf das jüngste Kind, diese letzte Überlebende, das letzte Wort haben, und das ist gut so.
Ihre warme, nach wenigen Sätzen bereits vertraute Stimme begleitete mich durch das andere Deutschland bis zu dessen Niedergang und dem Zerbrechen aller Hoffnungen, die noch gehofft wurden, nicht nur weil diese bekanntlich als letzte geht, auch weil, wie die Autorin es sagt, man doch wohl etwas anderes hätte versuchen können mit diesem zweiten Land.
Ich bediene mich ihrer Sprache, lehne mich daran an, weil ich noch nicht loslassen kann, dazu fehlt mir die Kraft, bin ich noch, wir wissen das, zu sehr erkältet.
Darum ziehe ich den Hut vor dieser Frau, die so mutig einen Roman schrieb, der alles zur Sprache brachte, auch das, das bereits Geschichte oder eben sogar schon eine Geschichte ist. Mehr denn je habe ich das Gefühl sie zu kennen und dabei gewesen zu sein. Genau darum geht es doch wohl, dass wir Menschen anhand ihrer Schicksale in die Erinnerung schreiben.
Ich habe die Lösung, ich werde das Buch jetzt einfach noch einmal hören, damit ich mich später besser daran erinnern kann an die Orte, die Menschen, das Land. Ja, ich höre es noch einmal, schließlich will ich endlich gesund werden. Und der Autorin möchte ich am liebsten sagen: Was verloren scheint, muss gar nicht so verloren sein. Denn wenn uns geboten ist zu gehen, ist die Erinnerung der beste Ort zu bleiben.
© 2018
Meine Art
(Page 1 of 1, totaling 2 entries)